Lieber FAIR, als fies!

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der Blogparade 2019 FAIR statt fies:

Eigentlich wollte ich etwas konkretes  über Traumata beim Hund in Trainingssituationen beitragen, doch das ist im Moment anscheinend nicht dran.Bewegt mich doch gerade noch zu sehr die jüngste Vergangenheit. Deshalb würde ich euch lieber an meinem derzeitigen Gefühlschaos teilhaben lassen, das meinem ersten, langersehnten und gut geplanten 4 Tage „Urlaub“ mit meinem Krümel folgte.

Ich habe mir letzte Nacht  mehrfach die Frage gestellt: War das fair? Oder war das fies? Und ich plage mich  mit einem schlechten Gewissen. Was passiert ist? Eigentlich nichts Spektakuläres, wenn man davon absieht, dass ich uns schlichtweg überfordert habe.Wusste ich doch schon vorher, dass Krümel ein fast siebenjähriger, verhaltensorigineller Terrorier ist. Trotzdem bin ich meiner großen Sehnsucht gefolgt, nach über10 Jahren einmal wieder Urlaub mit Hund zu machen.
Vor 2 Jahren hätte ich noch nicht einmal darüber nachgedacht, obwohl ich damals schon mehr als 3 Jahre lang Stück für Stück und in angemessenem Tempo aus einem größenwahnsinnigem  Hooligan, aus Krümel einen Begleiter zu machen, der sich zumindest halbwegs zivilisiert in der Öffentlichkeit benehmen kann.
Nicht ganz einfach, da er früh gelernt hat, dass Angriff die beste
Verteidigung ist und das Menschen, in von ihm gefühlten Notsituationen,
nicht verlässlich sind.
Zum besseren Verständnis, unsere Ausgangssituation:

Ich habe ihn mit 5 Monaten und einem damals bereits riesigen Rucksack schlechter Erfahrungen übernommen. Ich wusste, es wird eine Herausforderung einem Tierschutzhund „aus der Mülltonne Berlins“ mit einem häuslichen, für ihn fast tödlichem Beissvorfall im Gepäck, anschließend wie ein Wanderpokal von Pflegestelle zu Pflegestelle weitergeschoben, gerecht zu werden – aber wo die Liebe hinfällt.
Krümel war weder stubenrein, noch in der Lage angemessen auf meine Collies –
die wirklich sauber kommunizieren – noch auf Menschen, zu reagieren.
Immer in Sorge zu kurz zu kommen, verteidigte er,
alles was in irgendeiner Form wichtig für ihn ist – incl mir.
Zerstörte was ihm zwischen die Zähne kam.
Zweiräder und Kinder machen ihm Angst – gehören für ihn verboten und 4rädrige Fahrzeuge bis Lastzug- und Omnibusgröße gehören verjagt, oder wenn sie zu nah sind, getötet – ganz schlechte Kombi.

Unser Zusammenleben begann, mit Hilfe fester Rituale und Hausleine.
Er hat gelernt, zur Ruhe zu finden und ausreichend zu schlafen – das schafft eine Grundlage für eine normale Denkfähigkeit und daraus die Möglichkeit (gute) Entscheidungen zu treffen. Monatelang eine gute Balance zwischen Ruhe , körperlicher Aktivität, geistiger Beschäftigung zu schaffen und ihn zu unterstützen und zum Teil vor sich selbst zu beschützen, war ein Fulltime Job. Er hat langsam nach und nach verstanden, dass er mir vertrauen kann und gelernt, mich um Hilfe zu bitten, bevor er selbst handelt. Es war eine Reise in Babysteps, auf der es mir als Wichtigstes erschien, sein Ver- trauen in mich durch nichts zu missbrauchen. Denn trotz aller Unzulänglichkeiten, war er immer schon ein liebevoll und stets bemüht sein Bestes zu geben. Das beinhaltet – auch für mich – klare Regeln und manchmal auch ganz klare Ansagen, oftmals sehr viel deutlicher  als ich es gewohnt bin. Grenzen in denen man
sich frei entwickeln kann, fördern bekanntlich das Selbstbewusstsein.
 
Leider gab es auch bei uns zu Hause noch eine Malheur, nachdem er zum wiederholten Male die Warnungen des Collierüden ignoriert und eins aufs Dach bekommen hat. Seitdem weiß ich, dass er auch mit gebrochener Pfote und Loch in Kopf und Ohr noch das Bein zum pinkeln heben muss.
Ich habe ihn nie geschont, sondern ihm scheibchenweise die Welt gezeigt, so dass  er immer wieder genügend Zeit hatte Neues zu lernen und zu verarbeiten und so können wir mittlerweile Auto fahren, ohne dass er alles verbellt, was um uns herum stattfindet.
Er zerstört nichts mehr.
Wir können mit bekannten, ruhigen Hunden lange Spaziergänge im Wald oder am Strand machen.
Er kann zum Tierarzt und sich dort untersuchen lassen, ohne Maulschlaufe und ohne eine Hautprobe des Tierarztes zu nehmen.
Er ist mittlerweile zu 98% stubenrein und zeigt kaum noch Übersprungshandlungen.
Ich bin echt stolz auf ihn – lieben tue ihn sowieso.


 
Einen weiteren, großen Fortschritt haben wir vor 1,5 Jahren durch konsequente Futterumstellung erreicht, so dass Krümel mittlerweile sogar in der Lage ist, auch mit fremden, ruhigen Hunden angemessen Kontakt aufzunehmen und gemeinsame Spaziergänge zu absolvieren, ohne das ihm die „Sicherung durchbrennt“.
All das hat mir überhaupt den Mut gemacht – an gemeinsamen Urlaub zu denken.
Doch was zu viel ist, ist zu viel – das weiß ich jetzt.
Nachdem ich uns im Urlaubsort während eines wohldurchdachten Spaziergangs aufgrund einer  baulichen Umleitung plötzlich auf dem Hauptzufahrtsweg zur örtlichen Seebrücke wiedergefunden habe und dachte OK, es sind nur 500m – da müssen wir jetzt durch, weiß ich jetzt vermutlich wie sich Eltern fühlen müssen, die ein Kind mit einem bösen Tourette Syndrom begleiten. Eigentlich kann man nur noch lächeln, atmen und weitergehen – möglichst ohne Hast, denn das bringt nur noch mehr Energie in die ganze Situation, im Rampenlicht steht man ja sowieso – und hoffen das der Spuk bald vorüber ist.

Ab diesem Moment war es vorbei mit Krümels Contenance und die restlichen Tage haben wir ausreichend mit Schadensbekämpfung zu tun gehabt – viel Schlaf mit Körperkontakt, nur noch kurze Spaziergänge, möglichst wenig Begegnungen, wieder Benutzung eine Doppelleine, um ihn ohne viel Aktion wegdrehen zu können, große Abstände zu allem, trotzdem viel Stress und immer wieder zurückfallen in alte Verhaltensmuster und dann ist es passiert –
ja, auch meine Geduld ist endlich –
ich habe Krümel, nach einer weiteren völlig überflüssigen Attacke auf unseren mitreisenden Junghund, verbal gefaltet. Diesen Blick werde ich niemals wieder vergessen – vollkommenes Unverständnis, Angst und Entsetzen – und mir war klar:
Er versteht mich gar nicht, versteht seine Welt nicht  mehr und ich fühlte mich mies geradezu fies:
Ich bin zuständig ihm durch unsere Welt zu helfen und er ist stets bemüht,
sein Bestes zu geben und mir ist es wichtiger, dass zu tun was Menschen so in ihrem Urlaub tun, statt Rücksicht auf die Verfassung meines Hundes –
meines besten Freundes, zu nehmen.
 

Es ist unfair, ihm gegenüber und auch mir selbst gegenüber, zu sagen wir kriegen es nicht hin, an uns zu zweifeln – unsere Fähigkeiten anzuzweifeln. Wir haben schon so viel geschafft und wir werden sicherlich einen neuen Versuch starten – unter anderen Bedingungen. Wir werden schauen, ob wir Krümel nicht noch weiter,, vielleicht sogar medikamentös, oder über Nahrungsergänzung unterstützen können, seine Impulse besser zu kontrollieren. Wenn uns das nicht weiter bringt, dann eben nicht –
dann leben wir eben so weiter wie bisher.
Wir leben ja nicht schlecht – vielleicht ein wenig anders als andere.
Nur das, was ich in seinen Augen gesehen habe, weil ich in unserer Hilflosigkeit unangemessen reagiert habe, möchte ich niemals wieder sehen und einmal mehr bestätigt sich der Spruch: Hunde die Menschen das Leben schwer machen, haben es selbst nicht leicht!


 
Ich bin lieber fair, als fies!
Eure Katrin

PS: Krümel schläft übrigens – seit über 24 Stunden, mit minikleinen Gartenrunden zum Pippi machen und zwischendurch unsichtbare „Feinde“ zu verbellen.

 

 

 

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